Tarot Praxisbeispiel: Wie Karten-Deutungen entstehen.

Eine Klientin zog zu einer konkreten Frage das Ass der Stäbe. Zwar kanne ich als Berater die offizielle Bedeutung dieser Karte. Doch die individuelle Lösung ergab sich erst, als die Klientin selber zu interpretieren begann.

Tarot-Praxis

Wie Karten-Deutungen entstehen. Die Tarot-Karte selber hilft uns beim Deuten


Ernst Ott


Barbara kommt zu einer Tarot-Sitzung. Früher malte sie viel und hat jetzt eine große Sehnsucht danach, es wieder zu tun. Doch sie hat leider keine Zeit. Ich frage sie vor der Tarot-Legung, ob sie sich hundertprozentig sicher ist, dass es zeitlich unmöglich sei, ihr Ziel zu erreichen? Sie meint neben Beruf, Kontakten, Familie und Garten sei es nach dem gesunden Menschenverstand nicht wahrscheinlich, dass dann noch Zeit für ein Hobby übrig bleibe. Ich mache jedoch ungern Legungen über Vorhaben, zu deren Durchführung die Klientin gar keine freie Wahl hat, sondern glaubt, dass es unmöglich sei. Ich frage daher: „Wäre es für Sie denkbar, dass Sie mit Hilfe Ihrer Kreativität und der Karten dennoch eine Möglichkeit finden, auf die der gesunde Menschenverstand vielleicht einfach noch nicht gekommen ist?“ „Vielleicht“, sagt sie und ihre Augen funkeln unternehmungslustig. Ihr Wunsch, wieder zu malen scheint stärker zu sein als ihre Zweifel.

Sie zieht nun eine Karte zur Fragestellung: Wie finde ich Zeit zum Malen? Es erscheint das Ass der Stäbe. Die offizielle Deutung der Karte ist ermutigend. Der Wille und die Kraft sind da. Vielleicht unterstützt dies meine vorher ausgesprochene Suggestion, dass eine Lösung möglich sei.

Dennoch hilft diese erste Deutung nicht wirklich weiter, denn die Frage war ja: „Wie finde ich die Zeit dazu?“ Wir fragten nach einer Strategie.  Ich mache einen Deutungsversuch: „Vielleicht sagt die Karte einfach, dass der starke Wille genügt. Wenn Sie etwas wirklich wollen, dann geht es auch!“ Diese Interpretation hätte vielleicht einer Widder-Persönlichkeit geholfen, aber Barbara ist – wie ich später erfahre - eine abwägende Waage mit einem Fische-Aszendenten, und der Wille allein ist für sie kein Weg.

In solchen Fällen hilft nicht das Tarot-Experten-Wissen, sondern nur die Assoziationsmethode, das heißt das Kartenbild selbst. „Irgendwo auf diesem Landschaftsbild mit Stab“, sage ich, „muss ein Tipp versteckt sein, wie Sie es schaffen werden, Zeit zum Malen zu finden. Möglicherweise können nur Sie selber ihn erkennen. Bitte nehmen Sie sich Zeit, das Bild genau zu betrachten; was sehen Sie alles?“  Barbara sieht im Hintergrund eine Burg mit einem Turm, der hoch in den Himmel hinaufragt. Sie betrachtet den Stab mit dem Frühlingsgrün und die Hand, ohne dass das erhoffte Aha-Erlebnis eintritt.

Aufs Geratewohl frage ich: „Wie deuten Sie die Wolken?“ Die Lösung kommt ja auf magische Weise aus der Wolke; sie wird sozusagen „von oben“ geschenkt, und ich will eigentlich auf etwas Spirituelles hinaus. Aber Barbara fällt plötzlich ein: „Der schöne Blick in den Himmel aus unserem Dachzimmer! Daran erinnert es mich. Dort sieht man die Wolkenbilder kommen und gehen.“ Sie hat nun eine konkrete Verbindung zu ihrem eigenen Leben gefunden und sagt noch: „Dort oben, das ist ein bisschen wie dieses Turmzimmer auf der Karte, nah am Himmel.“ Wir sind also einer individuellen Interpretation der Karte für Barbara näher gekommen.

„Allerdings“, werfe ich jetzt ein, „ist ein Turmzimmer wohl noch keine Lösung für Ihr Zeitproblem…“ „Vielleicht doch! In dem Dachzimmer könnte ich meine Staffelei aufbauen, das Licht von oben inspiriert mich, und ich wäre dort völlig ungestört. Ich könnte da zwei Türen schließen und den Alltag mit all seinen Ablenkungen unter mir lassen!“ Das hört sich sehr überzeugend an. Vielleicht braucht meine Klientin gar nicht in erster Linie Zeit, sondern einen geschützten Raum für ihr Herzensprojekt. „Und wenn es nur für eine Stunde wäre“ sagt sie, „dort zu malen, das gäbe mir Kraft und Energie!“ Sie schaut dabei auf den Stab, der kraftvoll hoch oben im Himmel prangt.

„Ist Ihr Problem damit gelöst?“ frage ich. „Eigentlich nein, denn zurzeit ist dort das Gästezimmer. Mein Mann will das so. Dort übernachtet seine Schwester, wenn sie uns besucht.“   - Inzwischen glaube ich einen guten Draht zu meiner Klientin gefunden zu haben, darum erlaube ich mir eine kleine Provokation, um die Sache voranzutreiben: „Dann werden Sie wohl Ihr Maltalent wieder einmotten müssen. Denn ich sehe, Sie haben nicht nur keine Zeit dafür, sondern auch keinen Raum.“  Jetzt kann man geradezu fühlen, wie Barbara den Stab ergreift. Sie ruft: „Die kommt vielleicht zwei mal im Jahr! Wer ist denn in diesem Haus die Herrin? Ich oder sie und ihr ewig leeres Zimmer? Nein, das wird mein Atelier!“

Die Karte half fast von selbst beim Deuten. Und das Ergebnis ist individuell passend. In keinem Tarot-Lehrbuch steht zum Ass der Stäbe, dass man mehr malen soll, dass Dachzimmer eine Lösung darstellten oder dass Zeitprobleme nur ein Vorwand sind, dass es vielmehr darum gehe, sich Raum für seine Anliegen zu nehmen. Aber nachdem Barbara diese Deutung einmal gefunden – während einer Tarot-Sitzung selbst erschaffen hat – passt alles optimal zu der Karte.

Tarot weckt schöpferische Kräfte. Und die Karten sind jedes Mal neu.


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