Neujahrswunsch

Auf den Beistand Plutos vertrauen!

„Zum neuen Jahr wünsche ich Dir nur Gutes!“ So sagen wir regelmäßig zu unseren Lieben. Am Jahresbeginn wird stets das Gute und das Glück beschworen. Keiner sagt: Mögen die Geister der Unterwelt Dich begleiten.

Doch wird das neue Jahr nicht eine Mischung aus Gutem und Schlechtem, aus Freude und Schmerz bringen? So war es doch seit Anbeginn der Zeit. Deshalb – so meine ich – sollten wir uns Gutes wünschen, doch dabei den Gegenpol nicht vergessen. Der 1. Januar wäre eine schöne Gelegenheit, die Schatten, wie sie z.B. Pluto in unserem Horoskop anzeigt, nicht zu verdrängen. Vielleicht wäre es hilfreich, sie vielmehr zu akzeptieren oder sogar zu würdigen.

Die alten Römer hatten dafür ein schönes Ritual entwickelt. Auf dem Kapitol in Rom gab es damals ein Heiligtum des Gottes Veiovis. Es stand etwa an der Stelle, an der heute der Brunnen vor dem Senatorenpalast plätschert. Damals war der Kapitolsplatz noch nicht gepflastert, sondern eine naturnahe Hügellandschaft am Fuß des großen Jupiter-Tempels. Der Name des Gottes „Veiovis“ besagt, dass er der ergänzende Gegenspieler des Himmelsgottes Jupiter („iovis“) ist, ein ursprünglich etruskischer Unterweltsgott aus dem Reich Plutos.



Am 1. Januar opferten ihm die Römer feierlich, denn sie wussten, dass auch der Schattenwelt Ehre gebührt. Sie zeigten ihren Kindern die Pfeile, die Veiovis stets in der Hand hält und erzählten: „Wenn Alte und Kranke nicht geheilt werden können, wenn also Äskulap und seine Ärzte nicht mehr helfen können, so kommt Veiovis mit seinen sanften Pfeilen, die er ohne Waffe mit der Hand wirft, und verschafft den Menschen so einen schmerzlosen Tod.“  Wir wissen heute nicht mehr viel über die Eigenschaften dieser originellen Variante des Pluto-Prinzips. So können auch nur noch teilweise nachvollziehen, warum er als ein wohltätiger Gott verstanden wurde. Manche Römer hielten ihn sogar für einen Heilgott.  Moderne Psychologie und Astrologie bestätigen, dass Heilung nicht einfach bedeutet, dass alles nur noch gut ist, sondern, dass zwischen Licht und Schatten ein lebendiger Ausgleich hergestellt wird. Astrologisch gesprochen zwischen Jupiter- und Pluto-Prinzip in uns, ruhen doch gerade in Plutos Tiefen Selbstheilkräfte, sowie seelische und körperliche Ressourcen.

Unsere römischen Vorfahren hielten Veiovis zwar für ein machtvolles Wesen der dunklen Unterwelt, das jedoch auch zum Ganzen gehört und seine faszinierenden Seiten hat. Wenn sie am 1. Januar zum Veiovis-Heiligtum gingen, so warfen sie sicher zuerst einen Blick hinauf zum Jupiter-Tempel auf der Anhöhe rechts. Dann sagten sie zueinander: „Möge Jupiters Licht Dich begleiten!“ Doch dann wendeten sie sich Veiovis zu. Denn sie wussten, dass das neue Jahr, genauso wie das alte, auch dunkle Tage bereithalten wird; dann würde Jupiters ewig fröhliches Lachen kein Trost sein. Wohl aber ein geheimnisvoller Gott der Nächte und des sanften Todes.

Ich stelle mir vor, dass die Römerinnen und Römer dabei - wie es sich vor dem Angesicht eines Gottes gebührte - die Toga über ihren Kopf zogen, dann aber mit erhobenem Haupt zu der schönen Veiovis-Statue aufblickten. Sie zeigt einen jugendlichen vitalen Gott. Er blickt ernst. Seine Gesichthälften sind nicht ganz gleich. Es gibt in seinen Augen sowohl Klarheit als auch ein unergründliches Geheimnis. Dem Künstler, der das Götterbild herstellte, gelang ein Gesichtsausdruck von Licht und Schatten gleichzeitig.

Schauen Sie diesem erstklassigen Kunstwerk einen Augenblick länger in die Augen! Ich meine, dass er eine Energie spendende Ausstrahlung hat.

Ich wünsche Ihnen zum neuen Jahr den Segen aller guten Götter und auch den Segen des Veiovis!

Ernst Ott



Bild:
Veiovis, Bronzefigur, erstes Jahrhundert v.Chr., Museo archeologico nazionale in Viterbo.
Bildnachweis: Sailko - Eigenes Werk, CC BY 3.0, commons.wikimedia.org/w/index.php


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