Die nackte Wahrheit über die Tarotkarte "Der Stern"

Warum die Wahrheit stets als nackte Frau dargestellt wird.

Die Tarotkarte Nummer 17 mit dem Titel  „der Stern“ oder „die Sterne“ ist beliebt. Sie zeigt eine klare Sommernacht. Eine nackte Wassernymphe wird von allen Sternen beschienen. Sie ist ganz mit dem Kosmos und der Natur verschmolzen und gießt Wasser aus ihren Krügen auf die Wiese und in den Teich. Dieses Tun folgt keiner praktischen Logik und bringt keinen Nutzen; daraus erkennen wir, dass wir uns auf der höheren geistigen Ebene des Spiels bewegen. In der Stille dieser traumhaften Nacht glaubt man, das leise Plätschern zu vernehmen und die Natur atmen zu hören. Vielleicht kann jetzt die Seele sogar die Sterne sprechen hören.

Ob die Sterne die Wahrheit sagen? Ich nehme es einmal an, denn sie folgen einem gemeinsamen Gesetz, so dass sie nicht gezwungen sind, anderen Sternen etwas vorzugaukeln. Insofern vermute ich, dass es unter Sternen nie eine Notwendigkeit gab, die anstrengende Kommunikationsform  der Lüge zu erfinden. In diesem Sinne steht auch die Tarotkarte 17 „der Stern“ für ein höheres Gesetz, das man Wahrheit nennen könnte, auch wenn ich dazu neige, mit diesem dauernd missbrauchten Begriff sparsam umzugehen.

Wie steht es mit den Sterndeutern, den Astrologen oder den Tarot-Beratern, wenn sie „den Stern“ oder andere Karten interpretieren? Falls sie sich um die Wahrheit bemühen, so ist dies sehr ehrenwert. Aber es ist natürlich deren persönliche Wahrheit. Zur Professionalität gehört es, dass sie dies für ihre Klienten erkennbar machen und ihnen eine eventuell abweichende Wahrheit zugestehen.
Uranus ist der Gott des gestirnten Himmels, und die Frau auf dieser Tarotkarte verkörpert auch Urania, die Muse, welche die Stern- und Zukunfts-Deuter inspiriert.

Eine der frühesten Darstellungen dieser Karte aus dem „Visconti-Bembo“ Deck stellt allerdings keine nackte Wahrheit dar, sondern eine Frau im Sternenmantel, die nach einem goldenen Stern greift, und zwar nach dem Stern der Hoffnung. „La speranza“ war ihr ursprünglicher Name.

Die Karte 17 ist also Symbol für Hoffnung. Diese liegt einerseits im gestirnten Himmel – dem astrologischen Uranus-Wassermann-Prinzip – und andererseits in den fließenden Energien des Wassers und den blühenden Kräften der Natur, worin wir die Signatur von Gaia erkennen. Gaia oder Gäa ist in der Mythologie die Gattin des Uranus. Himmel und Erde begrüßen uns also auf der Tarotkarte 17. Gaia ist astrologisch dem Erdelement, vor allem dem Tierkreiszeichen Stier verwandt, in welchem sich aktuell Uranus gerade für 7 Jahre bewegt.

„Es war, als hätt' der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nun träumen müsst“.
So heißt es im Eichendorff-Gedicht „die Mondnacht“, das Schumann vollendet vertont hat. Die Sternenkarte zeigt einen ewigen Augenblick traumhafter Verbindung von Himmel und Erde. Und sie ist die Wahrheit. Nur in ihrem Geist erleben wir diese Versöhnung von oben und unten als Sternstunde.  

Künstler stellen die Wahrheit seit Jahrhunderten als allegorische Figur der Veritas (verità, vérité) weiblich und nackt dar. Nackt und unverstellt. Manchmal haben zwar Päpste oder priesterliche Sittenwächter diesen schönen nackten Frauendarstellungen – vor allem, wenn sie in Kirchen zu sehen waren - ein Kleid oder ein Paar Tücher verpasst. Damit gaben sie zu, dass sie die reine nackte Wahrheit schlecht vertragen. Aber vielleicht war ihnen das gar nicht bewusst. In den Augen dieser zölibatären Priester erschienen solche Kunstwerke verständlicherweise primär als Stimulation des Sexualtriebes.

In anderem Zusammenhang, z.B. bei Venus-Darstellungen oder in den freizügigen Rokoko-Darstellungen, bedeutet Nacktheit auch tatsächlich Erotik und Sexualität. Bei der Veritas, der Wahrheit jedoch ist sie Symbol für das Reine und Wahre.

Wer sich in die antiken Mysterien einweihen wollte, hatte nackt zu erscheinen. Das war eine Frage des Anstandes. Vor die Götter tritt man so nackt, wie man geschaffen wurde und wie man zuletzt wieder vor die Götter treten wird. Das Kleid als Zeichen des Standes (Sklave, Bürger, Kaiser) beeindruckt vielleicht die Menschen, aber nicht die Welt des Geistes, nicht den Himmel.  Die Nackte auf unserer Tarotkarte ist in diesem Sinne ähnlich wie ein Neugeborenes in seiner Reinheit ein Geschenk der Schöpfung. Sie verkörpert die Urwahrheit des Lebens.

Es gäbe zahlreiche weitere Beispiele aus der Tradition ritueller Nacktheit. Noch im achtzehnten Jahrhundert gingen die Menschen bei Trockenheit und Regenmangel gemeinsam mit einem nackten Mädchen an eine Stelle, an der Bilsenkraut wuchs. Das Mädchen wurde daraufhin im Bach mit Wasser besprengt, wie Jan de Vries in seinem Buch berichtet. Die nackte Frau war der Wahrheit der Natur am nächsten und verstand deren Sprache. „Auch wer Einblick in die Zukunft zu erlangen hofft, soll sich dazu ganz entkleiden“.  Urania auf unserer Karte – als Muse der Zukunftsdeuter – tut dies jedenfalls, während seriöse moderne Horoskop- und Kartenexperten den Anspruch, die Zukunft im Einzelnen konkret vorauszusagen, weitgehend aufgegeben haben - und ihre Arbeit stets angezogen verrichten. Über den Zusammenhang zwischen Nacktheit und Prognosefähigkeit fehlen übrigens bisher wissenschaftliche Untersuchungen.  Sicher ist nur, dass es gut ist, bei dieser verantwortungsvollen Tätigkeit nicht mit Kleidern und äußerem Schein zu protzen, sondern sich um die darunter liegende nackte Sternen-Wahrheit zu bemühen.

Wenn wir die Karte „der Stern“ Karte ziehen, so dürfen wir sie als eine gute Karte deuten, und mit Recht auf Sternenglanz und auf Segen von oben hoffen. Allerdings unter der Voraussetzung, dass wir vorher unsere äußerlichen Erwartungen, Wünsche und Machtansprüche abgelegt haben wie nutzlose Kleider, um uns der tieferen Wahrheit von Himmel, Erde und Schicksal zu öffnen. Nehmen wir also unsere Hoffnungen und Wünsche mit, wenn wir – symbolisch gesprochen – mit der Sternen-Nymphe an den Teich gehen. Atmen wir den Duft der Sommernacht tief ein, machen wir uns nackt und durchlässig. Gut möglich, dass uns "der Stern" die mitgebrachte Hoffnung nicht immer eins zu eins erfüllt; und sehr wahrscheinlich, dass er uns darüber hinaus auch Unerwartetes schenkt, etwas, das zu wünschen uns nicht eingefallen wäre, das wir aber dankbar annehmen dürfen. Vielleicht ist die nackte Wahrheit überhaupt keine willentlich errungene, sondern eine von oben geschenkte Gabe.

Ernst Ott

 


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