Tarot: Der Narr an höchster Stelle

Bei der Tarot-Karte „der Narr“ mit der Nummer 0 (null) weiß man nie so recht, wohin sie in der Hierarchie der Trumpfkarten gehört. Ist ihre Stelle vor der ersten oder nach der letzten Karte? Oder kann sie überall stehen? 

Die Zahl Null ist kleiner als eins, eigentlich gar nichts. Sie erhöht jedoch jede Zahl, wenn sie hinter ihr steht; sie macht andere Zahlen zehnmal größer. Auch die Hofnarren waren damals doppeldeutig. Neben dem König war der Narr machtlos und stand an letzter Stelle der Hof-Hierarchie. Aber er war auch immer in der Nähe des Königs, des höchsten Herrschers, und es heißt, er durfte ihm als einziger die Wahrheit sagen.

Um das Jahr 1300 wurde ein unbekannter Künstler engagiert, um die Wallfahrtskirche Maria Bickesheim am Rhein mit Fresken zu schmücken. Diese kostbaren Malereien sind noch heute zu sehen mit zahlreichen Szenen aus dem Leben Jesu und der Heiligen.

Zuoberst an der Decke malte der Künstler Gott Vater und daneben einen Narren.

 

Niemand weiß, was sich der Fresco-Maler dabei gedacht hat. Die Theologen vermuten, der Narr stelle einen Ungläubigen dar, der in Psalm 14 als Tor oder Narr bezeichnet wird. Aber wäre das ein Grund, ihn an höchster Stelle der Kirche zu verewigen und neben Gott, Jesus und allen Heiligen abzubilden?  - Das Geheimnis bleibt ungelöst.

Ich gestatte mir dazu eine moderne Deutung. Diese ist aus der Philosophie der Tarot-Karten abgeleitet, jedoch  ohne Anspruch auf kunsthistorische Korrektheit. Der Künstler wollte einfach sagen: Gott duldet auch die Narren neben sich. Vielleicht liebt er sie sogar. Zur Rechten des Vaters thront gewöhnlich Christus. Hier sehen wir zur Linken den Narren (von Gott aus gesehen). Das bedeutet: Wir sollten uns zwar bemühen, klug und gut zu sein. Doch unsere närrischen Seiten werden nicht verdammt. Sie kriegen sogar einen Ehrenplatz neben Gott-Vater.

Derselbe Künstler hatte auch eine Mauernische zu gestalten, in welcher der Messkelch und andre heilige Gerätschaften aufbewahrt wurden. In diese Nische malte der Künstler ein hässliches tierisches Teufelsmonster (siehe unten).
Ich meine: Er hat verstanden, dass Licht und Schatten zusammengehören. Er verteufelt den Teufel nicht. Der Messkelch, Symbol für unser Bündnis mit dem göttlichen Guten und der Teufel, Symbol für unsere schattenhaften Persönlichkeitsanteile – sie beide sind Teil der Schöpfung und finden in derselben Sakramentsnische Platz.Wenn wir nächstes Mal den Narren ziehen, dann könnten wir daran denken, dass er einmal an höchster Stelle einer Kirche gemalt wurde und uns vielleicht an unsere Nachbarschaft zum Göttlichen erinnert.

Ernst Ott

 

 


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