Tarot als Ermutigung zur Freiheit

Artikel über die Kunst, mit Tarot-Legungen den freien Willen zu stärken, samt ein paar Gedanken zur Tarot-Beratungskunst.

Die meisten heutigen Tarotberater sind sich vermutlich einig, dass der freie Wille der Klienten zu respektieren ist; auch der Ehrenkodex des Tarotverbandes verlangt das ja von uns. Und selbstverständlich wollen auch unsere Klienten freie Entscheidungen treffen. Wir Tarotberater können einiges dazu beitragen, es den Klienten zu erleichtern, eigenverantwortlich ihre Freiheit zu nutzen.  

Allerdings könnten wir auch mit einem autoritären Beratungsstil den Klienten fertige Lösungen anbieten. Damit würden wir ihr Bedürfnis befriedigen, von starker Hand geleitet zu werden, ihr Bedürfnis nach Führung.  Es gibt nämlich in den Klienten verschiedene Persönlichkeitsanteile. Unter ihnen ist meistens auch eine etwas unsichere kindliche innere Stimme, die sagt: „Hoffentlich nehmen mir die Tarotkarten die Entscheidung ab. Hoffentlich sagt mir der Tarotberater klar und deutlich, was ich zu tun habe.“ Manchmal hören wir diese Stimme laut, manchmal ist sie mehr im Hintergrund. Dieser Teil im Klienten kniet - bildlich gesprochen - vor uns nieder, hebt bittend die Hände und wünscht sich eine Beraterin wie die Königin der Schwerter (Abbildung oben): Sie gibt deutliche Anweisungen, schafft Klarheit, sagt was zu tun ist. Damit schenkt sie den Klienten nicht Freiheit sondern Sicherheit, und der innere Stress des Klienten ist für den Augenblick verschwunden. Doch schon auf dem Nachhauseweg von der Tarotberatung verlieren einige die Sicherheit. Ein erster Zweifel steigt hoch, ob es wohl gut sei, den Rat zu befolgen?

Falls die Sicherheit jedoch länger vorhält, so hat der Klient von der Tatsache, dass der Tarotberater ihm die Entscheidung abgenommen hat, folgenden etwas fragwürdigen Nutzen: Wenn die Sache gut ausgeht, kann er den Berater bewundern und bei jeder weiteren Entscheidung wieder aufsuchen, vielleicht sogar von ihm abhängig werden. Geht die Sache schlecht aus, so kann der Klient dem Berater die Schuld zuschieben und sich als Opfer der Fehlentscheidung eines Experten fühlen. Wenn er dann darüber mit seinen Freunden spricht, wird er eine Menge Empathie bekommen und höchst wahrscheinlich von ihnen mit neuen Ratschlägen überschüttet werden.

Berater, die uns die Entscheidung abnehmen, Ratschläge geben und klare Handlungsanweisungen geben, erfreuen nach meiner Erfahrung die Klienten nur kurzfristig. Und deren Fähigkeit, eigenständig freie Willensentscheidungen zu treffen wird dadurch natürlich nicht gerade gestärkt.

Ganz anders bei einem frei lassenden Beratungsstil. Auch dabei könnte die Schwert-Königin als Beispiel dienen, wir müssen sie nur anders interpretieren: Sie sieht den vor ihr knienden Klienten und merkt, dass in ihm gerade ein kindlicher Anteil dominiert, orakelgläubig und bereit, die Verantwortung an die große Seherin und Kartenkönigin zu delegieren. Daher macht die Königin eine aufmunternde Handbewegung und spricht: „Erhebe dich!“ Der Klient steht auf und kommuniziert ab jetzt auf Augenhöhe mit der Beraterin. Schon dies allein wirkt wie ein Appell an das Erwachsenen-Ich des Fragestellers. Er sieht den Vogel am Himmel, sieht, wie die Wolken sich lichten und blickt in die weite Landschaft. Nun verschafft er sich einen Überblick über seine Lebenssituation. „Schauen wir die verschiedenen Wege an, die dich weiterführen!“ sagt die Schwert-Königin, „und jetzt ziehe dein eigenes Schwert aus der Scheide und entscheide dich für einen der Wege!“

Der Klient fühlt sich unterstützt. Er erhält wieder Zugang zu seinen Ressourcen und spürt Lust, den freien Willen zu benutzen. Doch er spürt gleichzeitig, dass die volle Wahlfreiheit auch anstrengend sein kann.



Vielleicht geht es ihm jetzt wie der Gestalt auf der Karte Vier Kelche (Abb.). So viele Wahlmöglichkeiten überfordern ihn für einen Moment. Die Kunst, seine Freiheit zu nutzen, will geübt sein. Nun kann es hilfreich sein, sich unter einen Baum zu setzen, für einen Augenblick nach innen zu gehen und die vorhandenen Möglichkeiten zuerst einmal in Ruhe wahrzunehmen. Falls die beratende Schwertkönigin noch in der Nähe ist, könnte sie mit offenen Fragen nachhelfen wie zum Beispiel: „Was für ein Gefühl hast du zu dem ersten Kelch? Und zu dem zweiten Kelch? usw.“  Sie könnte auch fragen: „Bist du bereit eine neue Möglichkeit als Geschenk des Himmels anzunehmen (der vierte Kelch kommt ja aus einer Wolke)? Oder möchtest du lieber auf die drei schon vorhandenen Ressourcen zurückgreifen?“

Nach und nach wächst so im Klienten die Lust an der neu gewonnenen Freiheit und am Spiel der Möglichkeiten. Auch wenn Freiheit manchmal anstrengend sein kann, so weckt sie doch Kreativität und Experimentierfreude. So entstehen neue Entscheidungskompetenzen.

Da jedes einzelne der 78 Tarotbilder mehrdeutig ist, appelliert auch jedes an die Entscheidungsfreiheit des Betrachters. Wer eine neue eigenständige Deutung einer Karte erfindet, mobilisiert zudem Kräfte, um im realen Leben schöpferisch zu sein, neue Wege zu sehen und zu beschreiten.

In einem anderen Fall wäre es auch denkbar, dass der Klient, nachdem die Schwertkönig-Beraterin ihm das Schwert der eigenmächtigen Entscheidung gereicht hat – anders als die Figur mit den vier Kelchen – keine Bedenkzeit mehr braucht, sondern das Schwert sofort lustvoll ergreift wie der Bube der Schwerter (Abb.). Möglicherweise stürzt er gar wie der Ritter der Schwerter (Abbildungen unten) in vorfreudiger Ungeduld aus der Beratungspraxis hinaus sofort ins Leben, um seine Entscheidung schnell durchzusetzen.

Währendessen darf die Beraterin sich in der Kunst üben, nicht weiter einzugreifen. Sie darf dem Klienten vertrauen, dass er schneller oder langsamer von selbst sein Ziel findet.

Ernst Ott





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